Während der Pandemie hatte sich die Covid-Strategie Chinas, die der Bevölkerung drastische Ausgangsbeschränkungen auferlegt, als erfolgreich erwiesen. Seit Anfang 2020 wurden nach Angaben von Ourworldindata.org offiziell nur 4.655 Todesfälle gemeldet – im Gegensatz zu den hohen Sterbeziffern in den meisten anderen großen Volkswirtschaften.
In den vergangenen Monaten blieben chinesische Aktien jedoch hinter dem breiteren globalen Markt zurück. Insbesondere in der ersten Märzhälfte (vom 1. bis zum 15. März 2022) schnitten chinesische Aktien um mehr als 20 Punkte schwächer ab als ihre globalen Pendants. Dadurch rutschte der chinesische Leitindex MSCI China weit in den negativen Bereich ab: Seit dem Beginn des Jahres 2022 ist er um über 30 Prozent auf 26,04 Punkte gefallen. Seither haben chinesische Aktien wieder etwas an Boden gutgemacht. Dennoch haben sie sich seit Anfang 2021 bis heute um 47,3 Prozent schwächer entwickelt als der MSCI World. Seit Anfang 2022 beträgt die Underperformance immer noch 14,1 Prozent.
Was sind die Gründe für diese schwache Performance?
Im Jahr 2021 wurden chinesische Aktien hauptsächlich von der Verschärfung der staatlichen Regulierung in verschiedenen wichtigen Investmentbereichen belastet. Nach dem Kursverfall von Evergrande, dem größten Immobilienentwickler in China, wurde der Wohnimmobilienmarkt zum Ziel neuer durchgreifender Regulierungsbestimmungen. Abgesehen davon haben die chinesischen Regulierungsbehörden gewinnorientierte Nachhilfeangebote für Schüler effektiv verboten und die Bestimmungen für Technologieunternehmen verschärft.
Zu Beginn des Jahres 2022 wurden Anleger in China mit weiteren Herausforderungen konfrontiert:
- Neue Vorschriften zur Begrenzung der Monopolstellung von Technologieunternehmen, die zur Verteilung ihrer Gewinne unter der chinesischen Bevölkerung beitragen sollen
- Kontroversen über chinesische Unternehmen mit Börsennotierung in den USA, denen von den US-Behörden die Streichung angedroht wurde
- Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, der die wahrgenommene Neutralität Chinas infrage stellte und westliche Vergeltungsmaßnahmen wegen der chinesischen Unterstützung für das Regime in Russland möglich erscheinen ließ
- Weitere Lockdowns: Der Tropfen, der das Fass endgültig zum Überlaufen brachte, war die jüngste Covid-Infektionswelle (mit der Omikron-Variante), die China Anfang März 2022 erfasste. Während die Industrieländer allmählich von Lockdown-Maßnahmen abrückten, da die hohen Impfquoten in der Bevölkerung für eine gute Immunresistenz gegen die Krankheit gesorgt hatten, hielt China unverändert an seiner Strategie seit dem Beginn der Pandemie fest. Daher verhängte die chinesische Regierung seit Anfang März 2022 in mehreren Regionen drastische neue Ausgangssperren, unter anderem auch in Großstädten wie Schanghai, wo mehr als 3,8 Prozent des gesamten chinesischen BIP erwirtschaftet werden. Dies hatte einen starken Rückgang der chinesischen Einkaufsmanagerindizes zur Folge: Die Markit/Caixin-Einkaufsmanagerindizes für den Dienstleistungssektor und die Industrie lagen mit 42,0 beziehungsweise 48,1 Punkten deutlich unter der psychologisch wichtigen Wachstumsschwelle von 50. Shanghai ist auch der größte Hafen der Welt. Daher verursachten die Lockdowns massive Behinderungen der Frachtschifffahrt: Unlängst hat sich die Zahl der Schiffe, die vor dem Hafen von Shanghai warten, verdoppelt.
- Trotzdem konnten weitere schlechte Nachrichten über die Covid-Situation in Schanghai und den Lockdown in Peking, die in den vergangenen Wochen bekannt wurden, die chinesischen Aktien nicht wieder auf ihre Tiefstwerte vom März drücken. Dies könnte darauf hindeuten, dass der Rückgang vom März eine lokale Kapitulation der Anlegergemeinschaft gegenüber chinesischen Aktien war.
Was ist in den kommenden Monaten zu erwarten?
Bisher sind die Marktindikatoren für die absehbare Zukunft relativ positiv. Wir rechnen mit einem Rückgang der Covid-Fälle, wenn das Wetter wärmer wird, sodass die Lockdown-Maßnahmen zurückgefahren werden können. Die finanz- und geldpolitischen Impulse haben bereits dazu beigetragen, das BIP im 1. Quartal über die Erwartungen zu treiben (im 1. Quartal 2022 wuchs das BIP im Vergleich zum Vorjahr um 4,8 Prozent, gegenüber einem erwarteten Wachstum von 4,2 Prozent; die Gesamtfinanzierung in der Gesellschaft betrug im März 2022 insgesamt 4.650 Milliarden Renminbi, gegenüber einem prognostizierten Wert von 3.550 Milliarden Renminbi). Trotzdem dürften die Behörden die Lockerungsmaßnahmen weiter verstärken, um die Auswirkungen der Lockdowns zu lindern. Die neuen Maßnahmen umfassten Senkungen des Mindestreservesatzes der chinesischen Zentralbank für Banken um 25 Basispunkte und des Mindestreservesatzes für Devisenreserven um 1 Prozent. Sie dürften deutlich beschleunigt werden, sobald die Lockdowns allmählich beendet sind.
Die Anleger haben ihre Engagements am chinesischen Markt massiv reduziert, sodass Short-Positionen auf chinesische Aktien derzeit zu den überlaufensten Trades zählen (gemäß der „Global Fund Manager Survey“ von Bofa Merill Lynch vom 12. April 2022).
Die Anlegerstimmung ist nach wie vor relativ düster und die Bewertungen liegen nahe an den Tiefstwerten während der Covid-Krise. Und obwohl die chinesische Regierung nach wie vor ein BIP-Wachstum von 5,5 Prozent im Jahr 2022 anstrebt, wurden die Marktprognosen kontinuierlich bis auf 4,9 Prozent nach unten korrigiert. Dies zeigt, wie gering die Zuversicht ist, dass China das offizielle Ziel erreicht. Wir vermuten, dass diese Prognosen noch weiter gesenkt werden, bis sich die Covid-Situation stabilisiert. Im zweiten Quartal 2022 findet der 20. Kongress der Kommunistischen Partei Chinas statt. Daher könnte Präsident Xi Jinping die finanz- und geldpolitische Unterstützung bald beschleunigen, um seine Wiederwahl zu sichern.
Und was folgt dann?
In einem schwierigen globalen Umfeld für Risikoanlagen könnten sich chinesische Aktien in den kommenden Monaten besser entwickeln als globale Aktien, denn unseres Erachtens sind bereits sehr viele negative Faktoren eingepreist. Positive Meldungen sowie eine Lockerung der Geldpolitik und vorteilhafte Kreditkonditionen könnten chinesische Aktien unterstützen. In anderen Regionen, in denen die Finanzierungsbedingungen gestrafft werden (USA, Europa), fehlt diese Unterstützung. Die Beendigung der Lockdown-Maßnahmen dürfte ebenfalls ein positiver Faktor sein.
Langfristig könnten chinesische Aktien jedoch mit strukturellen Hindernissen durch die „Deglobalisierung“ konfrontiert werden. Dieser Prozess wurde durch die Pandemie und den Krieg in der Ukraine bereits beschleunigt. Zudem könnte sich die Haltung Chinas gegenüber Russland negativ auf seine Beziehungen zu westlichen Volkswirtschaften und damit letztlich auch auf seine Handelsbilanz auswirken.