Der Gesetzgeber plant eine tiefgreifende Änderung im Gemeinnützigkeitsrecht: Nach dem am 10. Juli veröffentlichten Referentenentwurf des Jahressteuergesetzes (JStG) 2024 Teil II soll die Pflicht zur zeitnahen Mittelverwendung für gemeinnützige Körperschaften abgeschafft werden. In der Praxis würde dies für Vereine, Verbände, Stiftungen und gemeinnützige Kapitalgesellschaften für erhebliche Vereinfachungen und mehr Flexibilität bei der Mittelverwendung führen. Insbesondere die gemeinnützige Stiftungsarbeit würde durch den Bürokratieabbau entlastet. Dem Vernehmen nach will sich das Bundeskabinett mit dem Gesetzesentwurf schon am 24. Juli 2024 befassen.
Flexiblere Mittelverwendung und Bürokratiewegfall
Nach derzeitiger Gesetzeslage müssen gemeinnützige Körperschaften ihre laufenden Erträge grundsätzlich zeitnah verwenden. Eine Ausnahme gilt nur für kleinere Organisationen, deren Gesamteinnahmen nicht mehr als 45.000 Euro pro Jahr betragen. Übersteigen die Stiftungserträge diese Grenze, müssen sie innerhalb von zwei Jahren für die steuerbegünstigten Zwecke verwendet werden (§ 55 Abs. 1 Nr. 5 AO). Rücklagen sind der Stiftung dann bisher nur in engen gesetzlichen Grenzen (vgl. § 62 AO) erlaubt.
Nun plant der Gesetzgeber, die Pflicht zur zeitnahen Mittelverwendung – und damit auch die komplizierten Regelungen zur Rücklagenbildung – für alle gemeinnützigen Körperschaften ersatzlos zu streichen. Stiftungsgremien könnten dann künftig deutlich flexibler über ihre kurz-, mittel- und langfristige Mittelverwendung entscheiden. Zudem werden sie dadurch von der müßigen Verpflichtung entbunden, der Finanzverwaltung die zeitnahe Mittelverwendung durch eine sogenannte „Mittelverwendungsrechnung“ nachzuweisen. Die Stiftungen würden von mitunter erheblichem Verwaltungsaufwand befreit und gewännen zusätzliche Ressourcen für ihre gemeinnützige Arbeit.
Kein Freibrief zur übermäßigen Thesaurierung
Die begrüßenswerte Entlastung darf jedoch nicht als kompletter Freibrief zur uneingeschränkten Thesaurierung verstanden werden. Sowohl stiftungs- als auch gemeinnützigkeitsrechtlich bleiben Stiftungen auch weiterhin zur jährlichen Zweckerfüllung und Mittelverwendung verpflichtet. Eine gemeinnützige Stiftung, die über Jahre hinweg die Mehrheit ihrer Stiftungserträge thesauriert, sollte hierfür entsprechende Gründe in den Protokollen der Gremienentscheidungen hinterlegen.
Gemeinnützige Stiftungen sollen nicht in erster Linie Vermögen mehren, sondern sind verpflichtet, ihren Stiftungszweck zu erfüllen. Auch die Begründung des Referentenentwurfes deutet zumindest darauf hin, dass die Finanzbehörde es beanstanden könnte, wenn in Extremfällen dauerhaft und unverhältnismäßig viele Mittel thesauriert und dadurch die gemeinnützigen Satzungszwecke nicht nachhaltig erfüllt werden (Seite 94 des Referentenentwurfs). Auch die Stiftungsaufsichtsbehörden werden mitunter prüfen, ob übermäßige Thesaurierungen noch mit dem Stifterwillen vereinbar sind.
Reaktionen aus der Branche
Unter Stiftungsmanagern werden die Pläne für einen Wegfall der Pflicht zur zeitnahen Mittelverwendung positiv aufgenommen. „Aus Sicht einer Anlageberaterin wäre eine größere Flexibilität für Stiftungen, sowohl was den Zeitraum der Mittelverwendung als auch die Rücklagenbildung betrifft, begrüßenswert“, sagt Claudia Collewuie, Abteilungsdirektorin Private Banking und Stiftungsexpertin bei M.M.Warburg & CO. So ergäben sich mehr Freiheiten bei der Vermögensanlage, insbesondere mit Blick auf die Kapitalbindung.
Änlich sieht es, Chris Fojuth, Leiter Stiftungen, öffentliche Einrichtungen und NPOs bei der DZ Privatbank. Die Überraschung über den Referentenentwurf sei bei Stiftungsverantwortlichen und Netzwerkpartnern groß gewesen. „Dieser rigorose Systemwechsel wurde vom Sektor weder gefordert, noch gab es in der Zusammenarbeit mit den Finanzbehörden in der Praxis bisher Schwierigkeiten mit der zeitnahen Mittelverwendung. Dennoch haben meine zahlreichen Gesprächspartner erfreut auf die angedachten Änderungen der Abgabenordnung reagiert“, berichtet Fojuth. Der Alltag einer gemeinnützigen Stiftung werde so vereinfacht, der Verwaltungsaufwand erheblich reduziert und damit sollte mehr Zeit bleiben, um den eigentlichen Stiftungszweck zu verfolgen.Ängste, dass die gemeinnützige Stiftung nun ausschließlich Rücklagen bildet und ihre Zwecke nicht mehr verwirklicht, hält Fojuth für übertrieben. „In meinem Beratungsalltag erlebe ich mehrheitlich Stiftungsorgane, die für die Verwirklichung des Stiftungszweckes einstehen und mit Ihren Mitteln in der Praxis etwas bewegen wollen.“ Zudem prüfe die Stiftungsaufsichtsbehörde ebenfalls die Verwendung der Mittel.
Einen kompletten Rückzug bei der Überwachung der Mittelverwendung seitens der Finanzbehörde ist für Fojuth als Stiftungsbegleiter zudem nicht erstrebenswert. Schließlich unterstütze sein Team auch viele unselbständige Stiftungen, die neben der Finanzbehörde oftmals keiner weiteren Kontrolle unterliegen. Den Erläuterungen des Referentenentwurfs folgend, habe der Gesetzgeber diese Thematik aber gleichfalls erkannt: „übermäßige Rücklagenbildung“ soll sanktioniert werden können.
Stiftungen sollten nach Inkrafttreten des Gesetzes ihre Statuten prüfen
In jedem Fall würde die Abschaffung der zeitnahen Verwendungspflicht den Stiftungsgremien eine neue, ungeahnte Flexibilität in der Mittelverwendung eröffnen: Die zuständigen Stiftungsgremien könnten ungleich freier entscheiden, ob sie die Erträge verwenden, dem Grundstockvermögen zuführen oder als Kapitalrücklage im sonstigen, später verwendbaren Stiftungsvermögen parken. Der Jahresabschluss würde entschlackt, auch der reale Kapitalerhalt des Grundstockvermögens wäre zukünftig deutlich einfacher zu gewährleisten.
Nach Inkrafttreten des Gesetzes sollten gemeinnützige Stiftungen daher auch ihre Statuten prüfen. Viele Stiftungssatzungen nehmen hinsichtlich der Mittelverwendung explizit auf die derzeitigen Gesetzesvorschriften Bezug oder geben sie wortlautähnlich wieder. Die Satzungen sollten dann an die geänderte Gesetzeslage angepasst werden, um Flexibilität sicherzustellen. Sofern noch nicht geschehen, könnte im Zuge dessen gleich auch eine „Grundrenovierung“ der Satzung im Hinblick auf die zum 1.7.2023 in Kraft getretene Stiftungsrechtsreform erfolgen.
Über die Autoren:
Jörg Alvermann ist Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht und Sportrecht in Köln. Er ist Partner der auf das Steuerrecht spezialisierten Anwaltssozietät Streck Mack Schwedhelm Rechtsanwälte Steuerberater Partnerschaft mbB. Er verantwortet in der Partnerschaft bundesweit die Beratungssegmente NPO (Vereine, Verbände, Stiftungen, gGmbH), Sport und öffentliche Hand.
Oliver Cremers ist ebenfalls Rechtsanwalt bei Streck Mack Schwedhelm in Köln. Er berät und vertritt schwerpunktmäßig Non-Profit-Organisationen, Stiftungen und die Öffentliche Hand in sämtlichen steuerrechtlichen, gemeinnützigkeits- und spendenrechtlichen, stiftungs- und vereinsrechtlichen sowie organisationsrechtlichen Fragestellungen und Belangen.