private banking magazin: Herr Schlütter, wie bewerten Sie vor dem Hintergrund der aktuellen Zinsphase deren Auswirkungen auf die Geschäftsmodelle deutscher Lebensversicherer?
Sebastian Schlütter: Die vergangenen Jahre zeigten, wie eng die Themen des Asset Liability Management (ALM) mit dem Geschäftsmodell von Lebensversicherern verknüpft sind und wie das ALM gleichzeitig herausfordernder wird. In der Niedrigzinsphase lagen die Hauptprobleme in den hohen Garantiezinsen in den Beständen, die mit sicheren festverzinslichen Anlagen nicht mehr erwirtschaftet werden konnten. In der Phase war die Solvabilität besonders im Fokus.
Seit der Zinswende liegt die Herausforderung verstärkt auf dem Liquiditätsmanagement. Ein großer Teil der festverzinslichen Bestände weist stille Lasten auf und ist somit in seiner Vertretbarkeit beeinträchtigt. Zugleich wird es für Versicherte neuerer Vertragsgenerationen attraktiver, Verträge beitragsfrei zu stellen oder gar zu stornieren. Empirische wissenschaftliche Arbeiten zeigen, dass die Marktkapitalisierungen von börsennotierten Lebensversicherern deutlich auf Zinsschwankungen reagieren und – im internationalen Vergleich – überraschend stark auf Risikoaufschläge festverzinslicher Anleihen.
Das Asset Liability Committee kann ein Instrument im ALM-Prozess sein. Welche konkreten Empfehlungen haben Sie für die optimale Zusammensetzung eines solchen Committees und wie sollte der Entscheidungsfindungsprozess strukturiert sein?
Schlütter: Anknüpfend an die erste Frage möchte ich noch einmal betonen, dass das Committee Themen behandelt, die für den Fortbestand des Unternehmens und seines Geschäftsmodells elementar sein können und dementsprechend sollte es hochkarätig besetzt sein. Zugleich sind die Themen häufig vielschichtig und erfordern Expertise in vielen Feldern.
In welchen?
Schlütter: Etwa in der Risikobewertung, Bilanzierung, Regulierung, der Situation auf dem Finanzmarkt und natürlich auf dem Versicherungsmarkt. Die intellektuelle Herausforderung im Risikomanagement liegt oft vor allem in der Kommunikation und gerade in der Verständigung über das eigene Fachgebiet hinaus. Gleichzeitig sind die Situationen oft so neuartig und besonders, dass "out-of-the-box"-Lösungen gefunden werden müssen.
Wie sollte der Entscheidungsfindungsprozess gestaltet sein?
Schlütter: So, dass er Zeit für Analysen im Vorfeld lässt, um eine evidenzbasierte Entscheidung treffen zu können. Zudem empfehle ich, die Informationssysteme im Sinne von Business Intelligence so zu gestalten, dass bei Bedarf in kurzer Zeit ad hoc Dashboards erstellt werden können, die in unvorhersehbaren Situationen die Entscheidungsfindung unterstützen.
Es gibt verschiedene Performance-Maße wie beispielsweise den wirtschaftlichen Mehrwert (Eva) und die risikoadjustierte Eigenkapitalrendite (Rorac). Welches dieser Maße halten Sie in der Praxis für am besten geeignet, um strategische Entscheidungen im Rahmen des Asset Liability Managements zu treffen und warum?
Schlütter: Beide Maße fassen die Dimensionen Erwarteter Gewinn und Risiko in einer Kennzahl zusammen, was die Bewertung verschiedener Entscheidungsalternativen vereinfacht, da eine Rangreihung gebildet werden kann. Zur Risikomessung wird oft der Solvenzkapitalbedarf herangezogen, was Eva und Rorac zu zentralen Größen im Enterprise Risk Management macht. Grundsätzlich sind Maße auf der Ebene des Gesamtunternehmens eng verwandt. Besondere Vorsicht ist aber geboten, wenn die Performance auf einer tieferen Ebene – etwa für die Geschäftsfelder – gemessen werden soll.
Warum ist das so?
Schlütter: Dabei stellt sich die Herausforderung, den diversifizierten Kapitalbedarf des Gesamtunternehmens auf die Geschäftsfelder zurückzurechnen, was als Risikokapitalallokation bezeichnet wird. Die Fachliteratur bietet dazu eine Vielzahl von Allokationsmethoden. Für den Rorac eines Geschäftsfeldes ist es problematisch, wenn der zugewiesene Allokationsbetrag negativ oder null ist. Ein häufiges Missverständnis besteht darin, das Allokationsverfahren so zu wählen, dass stets ein positiver Allokationsbetrag sichergestellt ist.
Diese Einschränkung ist nicht zielführend und kann dazu führen, dass sich das Performancemaß falsche Steuerungssignale sendet. In solchen Fällen ist der Eva vorteilhafter, da er auch mit negativen Allokationsbeträgen berechnet werden kann und eine verlässlichere Steuerungsaussage liefert.
Die Kapitalanlage von Versicherern wird komplexer, beispielswesie durch die Private Markets, was die Kosten in die Höhe treibt. Was können Versicherer tun, um ihrer Ertragskraft beibehalten zu können?
Schlütter: Versicherer sollten bei der Auswahl von Asset-Kategorien im Auge behalten, wo sie über kompetitive Vorteile verfügen. Diese bestehen aus meiner Sicht – trotz der zunehmenden Bedeutung des Liquiditätsmanagements – nach wie vor in der langfristigen Perspektive der Kapitalanlage, aber auch mit einer besonderen Struktur der Risikodiversifikation.
Im Rahmen der Solvency II-Regulatorik gibt die Möglichkeit, statt der Standardformel ein internes Risikomodell zu entwickeln. Welche Vor- und Nachteile sehen Sie in der Praxis bei der Implementierung eines internen Modells gegenüber der Standardformel?
Schlütter: Natürlich ist das Entwickeln und Betreiben eines internen Risikomodells ein aufwändiges Unterfangen, und ein vollständiges internes Modell nutzen entsprechend ja auch nur große und nicht allzu viele Versicherer. Einen großen Nutzen sehe ich vor allem darin, dass das Modell eine bessere Entscheidungsgrundlage liefern kann, da es komplexe Wirkungsmechanismen, beispielsweise von nichtproportionaler Rückversicherung, abbilden kann.
Sehr positiv finde ich, dass der „Use Test“ sehr zentral in den Zertifizierungsanforderungen von Solvency II verankert ist. Ein valides Modell setzt also voraus, dass es von vielen Akteuren im Unternehmen tatsächlich genutzt und gechallenged wird. Dieser Grundgedanke ist sehr eng mit einer guten Risikokultur und den Prinzipien eines guten Enterprise Risk Management verbunden.
Welche Vor- und Nachteile haben in ihren Augen die Risikodefinitionen im Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG). Welche konkreten Verbesserungsvorschläge hätten Sie für eine Überarbeitung dieser Definitionen, insbesondere beim versicherungstechnischen Risiko?
Schlütter: Zunächst halte ich es für wertvoll, dass Solvency II – beziehungsweise dessen Umsetzung im VAG – umfassend auf die relevanten Risikokategorien eingeht und damit dem Grundgedanken eines Enterprise Risk Managements Rechnung trägt. In § 7 VAG werden relevante Begriffe definiert, darunter auch die Einzelrisiken. Beim versicherungstechnischen Risiko – und einigen anderen – sehe ich in der Definition die Gefahr von Missverständnissen, da es so klingt, als sei das Risiko auf „unangemessene Preisfestsetzung und unangemessene Rückstellungsannahmen“ beschränkt.
Demnach würde es sich lediglich um Irrtums- oder Änderungsrisiken handeln. Tatsächlich ist das versicherungstechnische Risiko jedoch vor allem ein Zufallsrisiko: Selbst bei völlig angemessener Tarifierung und Rückstellungsbildung können in einzelnen Jahren übermäßige Schadenaufwendungen und damit versicherungstechnische Verluste auftreten. Im Zusammenhang mit der Standardformel bietet § 101 VAG übrigens eine sachgerechte Definition dieses Risikos.
Welche konkreten Lehren können europäische Versicherungsunternehmen Ihrer Meinung nach aus den Erfahrungen der japanischer Lebensversicherer in den 1990er ziehen?
Schlütter: In Japan kam es nach einer wirtschaftlichen Boomphase in den 1980er Jahren zu einem starken Einbruch Anfang der 1990er Jahre, der wiederum eine expansive Geld- und Fiskalpolitik einleitete. Lebensversicherer, die in den 80er Jahren Produkte mit hohen Garantiezinsen verkauft hatten, gerieten im Niedrigzinsumfeld unter starken Druck, sodass mehrere, auch größere Versicherer von der Aufsicht in die Liquidation überführt werden mussten. Diese Ereignisse verdeutlichen die Bedeutung eines wirksamen und langfristig orientierten Risikomanagements. Dass die Konsequenzen der Niedrigzinsphase der letzten Jahre in Europa nicht ganz so dramatisch waren, könnte auch auf ein fortschrittlicheres Risikomanagement und nicht zuletzt auf Solvency II zurückgehen. Allerdings kam es auch hier zu erheblichen Marktwertverlusten und Transfers großer Versicherungsbestände zu Run-off-Gesellschaften.
Solvency II und Basel III: Wie bewerten Sie die Konsistenz zwischen diesen beiden Regelwerken und sehen Sie Potenzial für eine stärkere Harmonisierung der Regulierung von Banken und Versicherungen?
Schlütter: Es bestehen natürlich einige Inkonsistenzen zwischen diesen Regelwerken. Beispielsweise ist die Berechnung von Kapitalanforderungen direkt im Ansatz verschieden, da mit Value-at-Risk beziehungsweise Expected Shortfall unterschiedliche Risikomaße zu Grunde liegen. In der Nutzbarkeit für Steuerungszwecke ist eher Solvency II im Vorteil, da sich hier durch die Berücksichtigung von Diversifikationseffekten eine realistischere Perspektive und somit bessere Anknüpfungsmöglichkeiten für ein Enterprise Risk Management ergeben. Allerdings sollte man auch immer sehen, dass Bestrebungen zu mehr Konvergenz der verschiedenen Regulierungswerke umfassende Änderungen verursachen würden. Der Umsetzungsaufwand aller Beteiligter – der sich ja letztlich auf den Preis der Produkte durchschlägt – ist erfahrungsgemäß hoch. Daher ist es auch wertvoll, die Regulierung stabil zu halten.
Welche Einflüsse werden in den kommenden Jahren den größten Einfluss auf das Asset Liability Management haben?
Schlütter: Quantencomputing, also die Nutzung von Quantenbits statt klassischer Bits zur Durchführung von Berechnungen, könnte ein wichtiges Tool im ALM werden. Die Portfoliooptimierungsprobleme von Versicherungsunternehmen sind für klassische Computer sehr rechenintensiv, insbesondere da die Abbildung von Zinsgarantien im Versicherungsbestand in Verbindung mit der Stochastik in den Buchwertenrenditen eine hohe Komplexität mit sich bringt.
Gerade der Einsatz hybrider Verfahren, bei denen Teilprobleme auf klassischen Computern und andere auf Quantencomputern gelöst werden, könnte die Berechnung erheblich beschleunigen beziehungsweise die Lösung realistischerer Problemstellungen ermöglichen. Solche Verfahren müssen aber zunächst entwickelt und dann erprobt werden, was eine spannende Herausforderung darstellt. An der Entwicklung eines hybriden Verfahrens beteilige ich mich gerade in einem Forschungsprojekt zusammen mit Experten von Fraunhofer IAIS und Pricewaterhousecoopers.
Versicherungen und der Klimawandel: Wie kann das ALM in Zeiten von Großkatastrophen noch gelingen – oder ist es gar kein Problem?
Schlütter: Der Klimawandel ist aus mehreren Perspektiven relevant für Versicherer: Zum einen übernehmen sie eine zentrale Rolle bei der Absicherung gestiegener Elementarschadenrisiken, die für regional fokussierte Versicherer aufgrund ihrer begrenzten Diversifikationsmöglichkeiten eine besondere Herausforderung darstellen.
Und zum anderen?
Schlütter: Spielen Versicherer als bedeutende Investoren eine wichtige Rolle bei der Eindämmung des Klimawandels, indem sie auf nachhaltige Kapitalanlagen setzen. Gerade bei Sparprodukten gewinnen Nachhaltigkeitsaspekte aus Kundensicht zunehmend an Bedeutung, sodass diese neben Rendite und Risiko im ALM berücksichtigt werden müssen. Zudem können Klimaereignisse als auch Klimaschutzmaßnahmen die Interaktionen von Versicherern und anderen Akteuren auf den Finanzmärkten beeinflussen. In einem aktuellen Arbeitspapier der EZB, an dem ich beteiligt bin, untersuchen wir die Wirkung von Lebensversicherern in einem Mehrsektorenstresstest. Dabei zeigt sich, dass Versicherer durch die Verlustbeteiligung der Versicherungsnehmer für das Finanzsystem durchaus eine entlastende Wirkung haben können.
Über den Interviewten
Sebastian Schlütter ist Professor für quantitative Methoden in den Wirtschaftswissenschaften an der Hochschule Mainz.