Sebastian Schlütter, Professor an der Hochschule Mainz „Die Herausforderung im Risikomanagement liegt oft in der Kommunikation“

Sebastian Schlütter, Professor für Quantitative Methoden in den Wirtschaftswissenschaftenan der Hochschule Mainz

Sebastian Schlütter: „Quantencomputing, also die Nutzung von Quantenbits statt klassischer Bits zur Durchführung von Berechnungen, könnte ein wichtiges Tool im ALM werden.“ Foto: Nathalie Zimmermann

private banking magazin: Herr Schlütter, wie bewerten Sie vor dem Hintergrund der aktuellen Zinsphase deren Auswirkungen auf die Geschäftsmodelle deutscher Lebensversicherer?

Sebastian Schlütter: Die vergangenen Jahre zeigten, wie eng die Themen des Asset Liability Management (ALM) mit dem Geschäftsmodell von Lebensversicherern verknüpft sind und wie das ALM gleichzeitig herausfordernder wird. In der Niedrigzinsphase lagen die Hauptprobleme in den hohen Garantiezinsen in den Beständen, die mit sicheren festverzinslichen Anlagen nicht mehr erwirtschaftet werden konnten. In der Phase war die Solvabilität besonders im Fokus.

 

Seit der Zinswende liegt die Herausforderung verstärkt auf dem Liquiditätsmanagement. Ein großer Teil der festverzinslichen Bestände weist stille Lasten auf und ist somit in seiner Vertretbarkeit beeinträchtigt. Zugleich wird es für Versicherte neuerer Vertragsgenerationen attraktiver, Verträge beitragsfrei zu stellen oder gar zu stornieren. Empirische wissenschaftliche Arbeiten zeigen, dass die Marktkapitalisierungen von börsennotierten Lebensversicherern deutlich auf Zinsschwankungen reagieren und – im internationalen Vergleich – überraschend stark auf Risikoaufschläge festverzinslicher Anleihen.

Das Asset Liability Committee kann ein Instrument im ALM-Prozess sein. Welche konkreten Empfehlungen haben Sie für die optimale Zusammensetzung eines solchen Committees und wie sollte der Entscheidungsfindungsprozess strukturiert sein?

Schlütter: Anknüpfend an die erste Frage möchte ich noch einmal betonen, dass das Committee Themen behandelt, die für den Fortbestand des Unternehmens und seines Geschäftsmodells elementar sein können und dementsprechend sollte es hochkarätig besetzt sein. Zugleich sind die Themen häufig vielschichtig und erfordern Expertise in vielen Feldern.

In welchen?

Schlütter: Etwa in der Risikobewertung, Bilanzierung, Regulierung, der Situation auf dem Finanzmarkt und natürlich auf dem Versicherungsmarkt. Die intellektuelle Herausforderung im Risikomanagement liegt oft vor allem in der Kommunikation und gerade in der Verständigung über das eigene Fachgebiet hinaus. Gleichzeitig sind die Situationen oft so neuartig und besonders, dass "out-of-the-box"-Lösungen gefunden werden müssen.

Wie sollte der Entscheidungsfindungsprozess gestaltet sein?

Schlütter: So, dass er Zeit für Analysen im Vorfeld lässt, um eine evidenzbasierte Entscheidung treffen zu können. Zudem empfehle ich, die Informationssysteme im Sinne von Business Intelligence so zu gestalten, dass bei Bedarf in kurzer Zeit ad hoc Dashboards erstellt werden können, die in unvorhersehbaren Situationen die Entscheidungsfindung unterstützen.

Es  gibt verschiedene Performance-Maße wie beispielsweise den wirtschaftlichen Mehrwert (Eva) und die risikoadjustierte Eigenkapitalrendite (Rorac). Welches dieser Maße halten Sie in der Praxis für am besten geeignet, um strategische Entscheidungen im Rahmen des Asset Liability Managements zu treffen und warum?

Schlütter: Beide Maße fassen die Dimensionen Erwarteter Gewinn und Risiko in einer Kennzahl zusammen, was die Bewertung verschiedener Entscheidungsalternativen vereinfacht, da eine Rangreihung gebildet werden kann. Zur Risikomessung wird oft der Solvenzkapitalbedarf herangezogen, was Eva und Rorac zu zentralen Größen im Enterprise Risk Management macht. Grundsätzlich sind Maße auf der Ebene des Gesamtunternehmens eng verwandt. Besondere Vorsicht ist aber geboten, wenn die Performance auf einer tieferen Ebene – etwa für die Geschäftsfelder – gemessen werden soll.

Warum ist das so?

Schlütter: Dabei stellt sich die Herausforderung, den diversifizierten Kapitalbedarf des Gesamtunternehmens auf die Geschäftsfelder zurückzurechnen, was als Risikokapitalallokation bezeichnet wird. Die Fachliteratur bietet dazu eine Vielzahl von Allokationsmethoden. Für den Rorac eines Geschäftsfeldes ist es problematisch, wenn der zugewiesene Allokationsbetrag negativ oder null ist. Ein häufiges Missverständnis besteht darin, das Allokationsverfahren so zu wählen, dass stets ein positiver Allokationsbetrag sichergestellt ist.

 

Diese Einschränkung ist nicht zielführend und kann dazu führen, dass sich das Performancemaß falsche Steuerungssignale sendet. In solchen Fällen ist der Eva vorteilhafter, da er auch mit negativen Allokationsbeträgen berechnet werden kann und eine verlässlichere Steuerungsaussage liefert.

Die Kapitalanlage von Versicherern wird komplexer, beispielswesie durch die Private Markets, was die Kosten in die Höhe treibt. Was können Versicherer tun, um ihrer Ertragskraft beibehalten zu können?

Schlütter: Versicherer sollten bei der Auswahl von Asset-Kategorien im Auge behalten, wo sie über kompetitive Vorteile verfügen. Diese bestehen aus meiner Sicht – trotz der zunehmenden Bedeutung des Liquiditätsmanagements – nach wie vor in der langfristigen Perspektive der Kapitalanlage, aber auch mit einer besonderen Struktur der Risikodiversifikation.

Im Rahmen der Solvency II-Regulatorik gibt die Möglichkeit, statt der Standardformel ein internes Risikomodell zu entwickeln. Welche Vor- und Nachteile sehen Sie in der Praxis bei der Implementierung eines internen Modells gegenüber der Standardformel?

Schlütter: Natürlich ist das Entwickeln und Betreiben eines internen Risikomodells ein aufwändiges Unterfangen, und ein vollständiges internes Modell nutzen entsprechend ja auch nur große und nicht allzu viele Versicherer. Einen großen Nutzen sehe ich vor allem darin, dass das Modell eine bessere Entscheidungsgrundlage liefern kann, da es komplexe Wirkungsmechanismen, beispielsweise von nichtproportionaler Rückversicherung, abbilden kann.