Anlegerpsychologie Warum uns Krisen jedes Mal wieder überraschen

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Krisenfreiheit ist ein illusorisches Konzept

Die Aufzählung aus dem vorigen Absatz ließe sich noch erweitern um viele ausgebrochene und einige auf Kosten der Allgemeinheit verhinderte Krisen. Quintessenz ist, dass praktisch keine längere Phase der kapitalistischen Wirtschaftsgeschichte frei von Krisen beziehungsweise teuren Rettungsaktionen war.

Besonders schlimme Krisen folgten regelmäßig auf Perioden, in denen man glaubte, entweder durch den Einsatz neuer Technologien, zuverlässige ordnungspolitische Rahmenbedingungen oder intelligente makroökonomische Maßnahmen den Wachstumsweg der Wirtschaft stabilisiert zu haben.

Der gravierendste Ausdruck dieser „Krisenfreiheits-Illusion“ in jüngster Vergangenheit war die Phase der sogenannten „Great Moderation“, die zur Finanzkrise führte. (Anmerkung der Redaktion: Der Begriff der „Großen Mäßigung“ geht zurück auf Ben Bernanke. Der damalige Fed-Chef beschrieb 2004 so seine Wahrnehmung, dass das Ende der großen Wirtschaftskrisen erreicht sei, weil die Geldpolitiker das Auf und Ab der Wirtschaft seit den achtziger Jahren besser im Griff hätten. Rund vier Jahre darauf folgte die schwerste Krise seit den 1920er Jahren).

Bereits in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts waren die USA auf den Weg eines relativ stabilen und inflationsarmen Wachstums eingeschwenkt, der mit Beginn des 21. Jahrhunderts auch für Europa und einige Schwellenländern zu gelten schien. Ursächlich hierfür wurde einerseits eine Wirtschaftspolitik gemacht, die auf Deregulierung und eine Stärkung des internationalen Handels setzte. Dies erleichterte ökonomische Anpassungen.

Weil die Blockierung von Strukturwandel in den 70er Jahren als hauptsächlicher Krisenverursacher identifiziert worden war, wurde dieser Risikofaktor so effektiv eingedämmt. Weiterhin stand eine Geldpolitik im Vordergrund, die konkrete Inflationsziele anstrebte (wie zum Beispiel eine moderate Geldentwertung von circa 2 Prozent pro Jahr), um einerseits die inflationären Folgen von gesundem Wirtschaftswachstum auf ein Mindestmaß zu begrenzen, andererseits Investoren für ihre Inflationserwartungen eine klare Perspektive zu vermitteln.

Als Erfolg dieser Politik der „Great Moderation“ wurde allgemein angesehen, dass sich regionale Krisen wie in Europa 1992 oder Asien 1998 beziehungsweise Finanzmarktschocks wie der Crash 1987 kaum auf die Weltwirt¬schaft auswirkten. Umso überraschender kamen dann die schlimmen Konsequenzen der Finanzkrise 2008. Weil der Fokus von Wirtschaftspolitikern und Notenbankern jahrzehntelang bei makroökonomischer Stabilisierung lag, hatten sie fatalerweise zwei Aspekte völlig aus den Augen verloren:
  • den starken Anstieg der Verschuldung auf Niveaus, die für viele Staaten, Unternehmen oder Immobilienbesitzer nur unter der Annahme tragbar waren, dass sich die „Great Moderation“ mit ihren stabilen Wachstumsraten ewig fortsetzt.
  • hatte das Schönfärben von Risikokennzahlen und Bilanzpositionen durch Betrug beziehungsweise kreative Buchführung bisher ungeahnte Ausmaße angenommen.
Übermäßige Verschuldung und Bilanzfälschung hatten bei der großen Wirtschaftskrise in den 70er Jahren keine größere Rolle gespielt. Damals waren eskalierende Inflationsraten, Rohstoffknappheit und strukturelle Verkrustung die Krisentreiber. Der Börsencrash 1929 und die folgende große Depression hatten hingegen sehr stark mit exzessiver Verschuldung und schönfärberischer Rechnungslegung zu tun. Ihre Konsequenzen,
  • konservative Bilanzierungsregeln;
  • eine starke Regulierung des Finanzbereichs sowie
  • das Trennbankensystem in den USA
wurden in den 1980er Jahren größtenteils wieder rückgängig gemacht, um die Flexibilität der Wirtschaft zu erhöhen.

Ironischerweise verschlimmerten die Maßnahmen zur Verhinderung einer Wiederholung der Weltwirtschaftskrise wie in den 1930ern die Konsequenzen der nächsten – der Ölkrise. Ihre Rücknahme durch Deregulierung des Finanzsystems wiederum begünstigte die Entwicklung der übernächsten großen Krise – der Finanzkrise.

Man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass die derzeitige Welle der Regulierung in der Finanzindustrie erneut zu einer Erstarrung führen wird, die nach der nächsten tief greifenden Krise wieder Deregulierung motiviert. Soweit sind wir aber noch lange nicht.